Standards und Herausforderungen in der Beratung von An- und Zugehörigen von Verschwörungsgläubigen
von MBT Hamburg
Glossar: Im Text sind einige Begriffe farblich hervorgehoben und zum Glossar verlinkt. Dort gibt es weitere Informationen zu diesen Begriffen.
Das Mobile Beratungsteam gegen Rechtsextremismus Hamburg (im Folgenden MBT) wurde relativ schnell ab Beginn der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 von Personen aufgesucht, die sich in ihrem Umfeld mit Verschwörungsideologien konfrontiert sahen. Zunächst wandten sich vor allem Einzelpersonen an das MBT, deren Familienmitglieder oder Freund*innen verschwörungsideologischen Erzählungen anhingen.
Viele verschwörungsgläubige Menschen haben einen hohen Medienkonsum und teilen die Inhalte, die sie aus einschlägigen coronaleugnerischen und verschwörungsideologischen Gruppen und Foren haben, teilweise exzessiv und ungefragt, mit ihren An- und Zugehörigen, die davon häufig überfordert sind. Für viele An- und Zugehörige entsteht dadurch Druck, so gut über die wissenschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Pandemie informiert sein zu müssen, dass sie in Diskussionen mit ihren verschwörungsgläubigen Familienmitgliedern und Freund*innen Argumente gegen deren Behauptungen anführen können.
An- und Zugehörige berichten außerdem, dass das Thema Corona oftmals die Gespräche dominiert, die häufig in emotionalen Diskussionen enden. Die Ratsuchenden wünschen sich Unterstützung im Umgang mit diesen ihnen nahestehenden Personen, da der verschwörungsideologische Glaube ihrer Angehörigen ihre Beziehungen teilweise stark beeinflusst.
Angebliche Abwesenheit rechter Ideologien – Herausforderungen in der Beratung
Obwohl sich mittlerweile auch einige Institutionen mit dem Wunsch nach Beratung zum Thema Verschwörungsideologien an das MBT wenden, werden meist Einzelpersonen beraten. Wir nehmen wahr, dass in gesellschaftlichen Diskursen über die verschwörungsgläubige Szene die Verschwörungsideologien inhärenten rechten Ideologieelemente häufig nicht (an)erkannt werden. Dabei ist Antisemitismus das Kernelement von Verschwörungsideologien, die genuin rechte Ideologien darstellen. Dieses problematische und unzureichende, da von Rassismus, Antifeminismus und Antisemitismus getrennte Verständnis von Verschwörungsideologien, teilen auch manche andere Beratungsstrukturen im Feld, was die Beratungsarbeit für alle Beteiligten erschwert. Die hohe Anzahl an ratsuchenden Angehörigen zeigt jedoch, dass sich die Zielgruppe vom Beratungsangebot des MBT durchaus angesprochen fühlt.
Die Anfragen von Schulen und Betrieben, die uns erreichten, haben außerdem gezeigt, dass Auseinandersetzung und Konfrontation mit Verschwörungsideologien nicht im Privaten bleiben, sondern nun auch in Institutionen angekommen sind. Daher ist unsere Prognose, dass Beratungen aus dem institutionellen Bereich künftig deutlich zunehmen werden.
Die Gruppe der verschwörungsgläubigen Personen ist sehr heterogen, sowohl hinsichtlich des Alters als auch in Bezug auf sozioökonomische Hintergründe und Bildungszugänge. Diese Beobachtung widerspricht dem medial häufig genutzten ableistischen und klassistischen Bild, das verschwörungsgläubige Menschen pathologisiert und / oder als minder intelligent beschreibt. Eine solche Darstellung führt zur erneuten Abwertung von kranken und / oder gesellschaftlich behinderten Menschen. Zudem entpolitisieren derartige Zuschreibungen die Haltungen und Handlungen von Verschwörungsgläubigen und verkennen das Gefahren- und Mobilisierungspotential, das von rechten Ideologien und konkret auch Personen und Netzwerken ausgeht.
Außerdem findet auch im Feld der Beratungsstellen und Bildungsprojekte zum Themenkomplex Verschwörungsideologien teilweise eine wenig hilfreiche Wiederholung antisemitischer und rechter Inhalte statt, in der manchmal eine verharmlosende Faszination für oder eine Belustigung über problematische und rechte Erzählungen sichtbar wird. In der Beratung ist es grundlegend, (potentiell) Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt im Blick zu haben und die Anschlussfähigkeit von antisemitischen und rechten Erzählungen in der Gesellschaft mitzudenken.
Was passiert in der Beratung? Ablauf und Standards
Unser Ansatz basiert auf systemischer Beratung, ist lösungs- und ressourcenorientiert. Das meint unter anderem, dass wir keine vorgefertigten Lösungen anbieten und uns an Anliegen der Ratsuchenden orientieren. Der Beratungsansatz bezieht Expertise und Ressourcen der Ratsuchenden ein, die viel Kontextwissen und Potentiale zur Lösungsfindung mitbringen. Meist wünschen sich die Beratungsnehmenden mehr Klarheit zu der Frage, ob und wie die Beziehung aufrechterhalten werden soll. In der Beratung geht es unter anderem darum, einen Raum zu eröffnen, in dem sich An- und Zugehörige bei der Schilderung ihres Anliegens ernst genommen fühlen. Wie bereits weiter oben erwähnt, werden Verschwörungserzählungen medial oder vom eigenen Umfeld häufig verharmlost, was gesellschaftlich problematisch und für die An- und Zugehörigen wenig unterstützend ist.
In der Beratung geht es für uns darum, erst einmal besser zu verstehen. Wir stellen Fragen, die Aufschluss geben über die Geschlossenheit des Weltbildes der Verschwörungsgläubigen, u.a. inwiefern die Person Inhalte selbst teilt, an Protesten teilnimmt, ob und wie sie vernetzt ist. Eine hierfür relevante Frage ist, wie lange die Person bereits verschwörungsgläubig ist. Die Antwort hierauf ändert sich häufig während der Beratung und der Beschäftigung der Ratsuchenden mit Verschwörungsideologien. Zunächst wird der Verschwörungsglaube oft als Phase und Reaktion auf die Pandemie eingeordnet. Allerdings erkennen Beratungsnehmende bei ihren An- und Zugehörigen in den meisten Fällen schon länger sichtbare Merkmale von Verschwörungsglauben oder vorher nicht erkannte gefestigte antisemitische Weltbilder.
Ein wichtiger Teil der Beratung ist die Einordnung und Benennung rechter Ideologieelemente als Kernelemente von Verschwörungsideologien. Zudem ist es hilfreich, auf Funktionen von Verschwörungsideologien einzugehen, wobei berücksichtigt werden sollte, dass nicht zu schnell und leichtfertig auf die bereits angesprochene Pathologisierung und Verharmlosung von Verschwörungsgläubigen zurückgegriffen wird.
Ein oftmals geäußertes Ziel von Beratungsnehmenden ist es, die Angehörigen zu überzeugen oder in die eigene Deutungsrealität “zurückzuholen“. Dass dies gelingt, ist in den allermeisten Fällen jedoch unwahrscheinlich. Hier sind eine realistische Einschätzung und eine gemeinsame Zielformulierung unterstützend, die die Ratsuchenden handlungsfähig machen und Prozesse in Gang setzen, in denen die Zielerfüllung proaktiv beeinflusst werden kann.
Strategien und Ressourcen von Beratungsnehmenden
Die Strategien von An- und Zugehörigen sind mitunter sehr kreativ. Viele Ratsuchende bringen bereits eine Menge Expertise mit und haben verschiedenste Handlungsoptionen ausprobiert und entwickelt. In der Beratung kann gemeinsam auf das bisher Erprobte geblickt werden, bei Bedarf können dann weitere Handlungsoptionen entwickelt oder vorhandene angepasst werden.
Der Beratungsprozess schafft häufig politische Klarheit bei Ratsuchenden. Diese wenden sich oftmals aus der intuitiven Einschätzung heraus an das MBT, dass die von ihren Angehörigen geteilten Inhalte rechten Ideologien zuzuordnen sind. Diese Einschätzung schärft sich häufig im Beratungsprozess. Durch eine klare Einordnung werden An- und Zugehörige darin gestärkt, Grenzen zu setzen und Verschwörungsideologien möglichst wenig Raum zu geben. Von einigen Ratsuchenden wird die Umfokussierung der eigenen Rolle als hilfreich beschrieben: Von der weiter oben beschriebenen Rolle als Überzeugende*r weg und hin zu der Frage, wie Grenzen gesetzt werden können, um nicht jede Herausforderung annehmen zu müssen. Für viele Ratsuchende ist es wichtig, sich von der Ideologie abzugrenzen, gleichzeitig aber für ihre Zu- und Angehörigen da zu sein und offen für Gespräche zu bleiben, vor allem wenn es Irritationsbereitschaft gibt.
Da die alltäglichen Abgrenzungs- und Aushandlungsprozesse kräftezehrend sein können, geht es auch darum, mit Beratungsnehmenden über die eigenen Grenzen und Ressourcen ins Gespräch zu kommen. Da für einige unter anderem die Vernetzung und der Austausch mit anderen An- und Zugehörigen von Verschwörungsgläubigen unterstützend ist, verweisen wir Ratsuchende bei Bedarf einerseits an eine Selbsthilfegruppe und bieten andererseits in unregelmäßigen Abständen einen Austauschraum für Beratungsnehmende an.
Dieser findet bisher online statt und ist ein begleiteter Raum, in dem sich An- und Zugehörige einerseits über Herausforderungen und Strategien austauschen können und in dem wir andererseits auf Bedarfe eingehen und Inputs zu bestimmten Themen anbieten. Viele Ratsuchende empfinden den positionierten Raum in der Beratung und den Austausch mit anderen Zu- und Angehörigen als unterstützend und hilfreich.
Das MBT Hamburg bietet für Zu- und Angehörige von verschwörungsgläubigen Menschen halbjährlich einen Online-Austauschraum an. Bei Beratungsbedarf, Fragen und weiteren Anliegen ist das MBT erreichbar unter:
Telefon: 040 284016-202
mbt@hamburg.arbeitundleben.de
www.hamburg.arbeitundleben.de/mbt