Beratungsarbeit im Feld

Es ist ein Bild zu sehen mit Schrift vor blauem Hintergrund mit Symbolen, die an digitale Ordner erinnern. Der Text lautet: #Angehörigenperspektive, #Familie, #Freund_innen
Meine Mutter un dich in unterschiedlichen Welten

aus Angehörigenperspektive

Glossar: Im Text sind einige Begriffe farblich hervorgehoben und zum Glossar verlinkt. Dort gibt es weitere Informationen zu diesen Begriffen.

Dieser Text wurde von einer Angehörigen verfasst, die hier einen Einblick in ihre Wahrnehmungswelt gibt. Es geht hierbei nicht darum, Lösungen zu präsentieren, sondern persönliche Erfahrungen und Umgangsweisen mit Verschwörungsideologien darzustellen.

Sie führt ein glückliches Leben und verkehrt in gut situierten Kreisen. Ihre Familie ist ihr das Wichtigste. Doch dann zieht es sie innerhalb weniger Monate immer tiefer in die Welt der Verschwörungsideologien. Der Weg dahin begann jedoch viel früher. Oft hat ihre Tochter daran gedacht, den Kontakt abzubrechen, doch haben sie einen Weg für ihre Beziehung gefunden.

Rückblickend legte meine Mutter den Grundstein für ihre heutige Realität vor ungefähr 20 Jahren. Ich selbst, das jüngste von drei Kindern, war damals Teenagerin. Wenn mittags die Küche aufgeräumt wurde, klangen neue Stimmen durch unser Wohnzimmer. Sie kamen aus dem Fernseher und gehörten zu selbsternannten Wahrsager:innen. Diese Wunderheiler:innen konnten Gedanken und die Zukunft der Anrufer:innen aus dem Rauch eines Räucherstäbchens ablesen. „Ist das nicht faszinierend?“, sagte unsere Mutter mit großen Augen, während meine Geschwister und mich diese Leichtgläubigkeit stets amüsierte.

Die Jahre vergingen und wir lebten ein glückliches Familienleben. Mein Vater, ein erfolgreicher Geschäftsmann, war viel auf Reisen. Meine Mutter nahm die Rolle einer klassischen Hausfrau ein, die sich liebevoll und aufopfernd um uns kümmerte. Es fehlte uns an nichts.

Wäre ich später geboren, hieße ich wohl Anastasia
Wir Kinder wurden älter und unsere Mutter füllte ihre freie Zeit sinnvoll aus. Zweimal die Woche Yoga und ein neues Interesse – die Esoterik. Fortan liefen CDs mit wohligen Klängen in Dauerschleife und das ein oder andere Räucherstäbchen wurde feierlich entzündet. Wir sahen sie glücklich mit all ihren Schutzengeln und der vielen esoterischen Liebe. „Ach, lass sie doch! Sie schadet doch niemandem“, sagten wir. Zu Weihnachten sollte es etwas Besonderes sein und wir schenkten ihr Karten für ein spirituelles Konzert ihrer Lieblingssängerin. Von da an fühlte sie sich vollends wohl in dieser mystischen Welt, die ihre ganz eigenen Auffassungen von allem hatte. Farbenprächtige Poster und Schutzengel füllten die Wohnräume, Bücher mit den merkwürdigsten Titeln wurden schneller gekauft, als dass sie gelesen werden konnten, und dank eines Abonnements verpasste sie keine Ausgabe der „Lichtsprache“. Hatte jemand in der Familie ein Problem, empfahl sie uns stets die Anastasia-Bücher. Hier fände man Antworten auf sämtliche Fragen des Lebens.

Aus Engeln wurden Reichsfahnen
Das alles liegt nun über 20 Jahre zurück. Die letzten beiden Jahre waren für meine Familie sehr schwer. Nachdem sich meine Mutter dem Anschein nach viele Jahre harmonisch in der esoterischen Welt aufgehalten hat, gelang sie über Youtube und Telegram zu radikaleren Inhalten aus der rechtsesoterischen Szene und schließlich aus der Reichsbürgerszene.  Natürlich wussten wir zu Anfang nichts davon und wunderten uns nur über gelegentliche radikale Aussagen.

War sie doch immer der toleranteste Mensch gewesen, kritisierte sie plötzlich die Migrationspolitik der Bundesregierung und erzählte uns merkwürdigste Geschichten, die bei logischer Betrachtungsweise überhaupt keinen Sinn ergaben. Doch das störte unsere Mutter nicht. Ihre Aussagen machten uns wütend, sind wir doch frei und eher linksliberal erzogen worden. „Das ist nicht die Reichsflagge, das ist die Flagge von Bismarck!“, sagte sie selbst dann noch, als ich ihr Videos von Neonazis zeigte, die die schwarzweißrote Fahne schwenkend durch die Straßen von Berlin zogen.

Ich dachte, meine Mutter sei an Schizophrenie erkrankt
Ich erinnere mich noch gut an ein Wochenende im Herbst 2019. Ich bin inzwischen selbst Mutter von drei Kindern und sehnte mich nach einer kleinen Auszeit. Meine Mutter und ich hatten immer eine sehr enge und freundschaftliche Beziehung und so fuhren wir gemeinsam ein Wochenende an die Ostsee. Während der Fahrt ans Meer erzählte sie mir von entführten Politikern, die unter Drogen gesetzt beim Kindesmissbrauch gefilmt wurden und mit den Videos nun erpresst würden. Später im Restaurant regte sie sich auf, dass die deutsche Fahne am Tag der Deutschen Einheit nicht präsent genug sei, und während ich mich abends im Hotel bei einem guten Buch entspannte, scrollte sie stundenlang auf ihrem iPad bei Telegram herum. Sogar mitten in der Nacht weckte mich das Licht ihres iPads.

Parallel dazu recherchierte ich die Namen ihrer neuen Informationsgeber:innen und erfuhr schnell, dass es sich meist um vorbestrafte und der rechten Szene angehörige Personen handelte, die auf den gängigen Online-Medien längst gesperrt waren. Darauf reagierte sie abweisend und wollte davon nichts wissen.

Ich glaube, zu dieser Zeit spürte ich erstmals eine Art Entfremdung von meiner Mutter, mit welcher ich fast 40 Jahre eine sehr enge Beziehung geführt habe. Rückblickend waren es wohl die großen Sorgen, die mich auf den Verdacht einer Schizophrenie brachten. Ich begann zu recherchieren, was es mit ihrer veränderten Wahrnehmung auf sich haben könnte, und sprach sogar mit einer befreundeten Psychologin darüber. Die Aussagen meiner Mutter waren dermaßen absurd, dass der Verdacht schnell auf diese psychische Erkrankung fiel. Da klingelte etwas – hatte ich nicht einen Onkel, der an Schizophrenie erkrankt war? Diese Erkrankung mit dem hohen erblichen Potential könnte doch auch meine Mutter getroffen haben. Im Geiste sah ich bereits schwierige Jahre vor uns und meine Mutter in einem Pflegeheim. Ich telefonierte mit meiner Schwester und erfuhr, dass besagter Onkel gar nicht blutsverwandt ist und daher kein erhöhtes Risiko für diese Erkrankung bestand. Und dann war sie wieder da, diese Ratlosigkeit. Was war nur mit unserer Mutter los?

Corona wirkte wie ein Katalysator
Ich weiß nicht, was mich im Frühjahr 2020 mehr schockierte – die Bilder aus Norditalien oder meine Mutter, die an diesen Fotos zweifelte. Während für mich Social Distancing selbstverständlich war, glaubte sie den seriösen Medien schon längst nicht mehr. Aus der Tagesschau wurde die Tageskorrektur mit Hans-Joachim Müller. Und auch Angela Merkel sei längst im Knast und durch ein Double ersetzt. Trump wurde als Erlöser gefeiert und sei immer noch Präsident der Vereinten Staaten von Amerika. „Ihr werdet schon noch sehen“, beteuert sie überzeugt ihre Aussagen. Meine Mutter wurde 1952 im Ruhrgebiet geboren. In der Nachkriegszeit hatten Probleme keinen Platz. Es galt, mit aller Kraft die vorgetäuschte „Heile Welt“ aufrecht zu erhalten. Es war eine Zeit, in der deutsche Verbrechen verdrängt statt aufgearbeitet wurden. Offen gesprochen wurde über sie nicht.

Anstatt über Nationalsozialismus und Antisemitismus zu sprechen, findet meine Mutter Halt und „Erklärungen“ in Verschwörungsideologien, so sei Corona doch nur erfunden und wir alle auf dem Weg in eine neue Welt. Der Transformationsprozess, von dem sie überall las und von dem sie uns zu überzeugen versuchte, fand weniger in der realen Welt als vielmehr in meiner Mutter selbst statt. Ihr Verhalten änderte sich und sie überschüttete uns mit Links zu dubiosen Videos und warnte uns am Telefon vor Ausfällen jeglicher Art unserer zivilisierten Welt. Die Amerikaner hätten uns unterwandert und der stille Krieg habe bereits begonnen. Wir bräuchten keine Angst haben, das sei alles notwendig, damit es uns hinterher besser geht. Noch besser?

Lebensmittel werden gehortet; für uns praktischerweise gleich mit. Fürsorglich war meine Mutter schon immer. Vom Immobilienkauf rät sie uns ab. „Der Finanzmarkt bricht sowieso bald zusammen.“ Stolz verkündete sie uns, dass sie 90 Euro in Silbermünzen angelegt hat, und verriet mir im Vertrauen, wo sie eine größere Summe Bargeld deponiert habe. „Für den Notfall“, sagte sie und guckte mir ernst in die Augen.

Gespräche führen uns nicht weiter
Während meine Mutter sich auf die vermeintlich neue Welt vorbereitete, blickten wir der Realität ins Auge. Kritisch über Probleme sprechen konnte man mit ihr noch nie. Es überrascht daher nicht, dass jeder Versuch, vernünftig reden zu wollen, schnell zum Streit führt. In unserer Familie gab es nie viel Streit, doch wir haben nie mehr miteinander diskutiert als in den vergangenen zwei Jahren. „Ich habe meine eigene Meinung“, betont meine Mutter. War sie früher politisch nicht interessiert, hat sie nun ihre eigenen Quellen und „informiert sich“, wie sie es nennt. Eine Mischung aus Esoterik, Rechtspopulismus und Weltuntergangsstimmung. Uns kommt es wie eine verspätete Emanzipation vor. Sie war all die Jahre die fürsorgliche Mutter und Hausfrau, umgeben von gebildeten und beruflich erfolgreichen Menschen. Meine Mutter, sechstes von acht Kindern, musste bereits mit 15 Jahren die Schule beenden und arbeiten gehen. Abitur konnte sie nicht machen. Endlich verfügt sie heute über ein Wissen, welches wir nicht haben. Dafür verbringt sie schon mal bis zu zehn Stunden pro Tag online!

Wir wandten uns an das Mobile Beratungsteam gegen Rechtsextremismus, sprachen mit einem Pastor, der Sektenbeauftragter ist, und trafen uns online mit einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Anhänger:innen von Verschwörungsideologien. Jeder Austausch half uns, besser mit der Situation umzugehen. Einen Satz des Pastors habe ich noch besonders in Erinnerung: „Wenn Ihre Mutter sich täglich so viele Stunden im Internet Informationen holt, werden Sie es nie schaffen, dagegen anzureden.“ Er sollte Recht behalten.

Trotz Vertrauensbruch haben wir einen gemeinsamen Weg gefunden
Es ist schwer zu akzeptieren, dass meine eigene Mutter fremden Menschen aus dem Internet mehr Glauben schenkt als ihrer eigenen Familie. Es hat über ein Jahr gedauert, in dem ich gemeinsam mit meinen Geschwistern hart um unsere Mutter gekämpft habe. Die Erkenntnis traf mich eines Morgens mit voller Wucht unter der Dusche. „Wir können meine Mutter nicht ändern, also müssen wir uns ändern!“ Meine Tränen verschwanden wie meine Hoffnung im Abfluss, doch gleichzeitig verspürte ich eine Art Befreiung. Als würde mir eine riesige Last genommen. Von diesem Moment an versuchte ich nicht mehr, meine Mutter zu überzeugen, dass sie an Verschwörungsideologien glaubt, sondern ich konzentrierte mich auf das Positive an ihr. Und davon gibt es reichlich! Alles, worauf ich mich im Jahr davor konzentriert hatte und das ich bekämpfen wollte, fing ich an zu ignorieren. Ich blendete es einfach aus. Seither bin ich wieder in der Lage, meine Mutter von früher zu sehen mit all ihrer Liebe, Fürsorglichkeit und ihrem Frohsinn.

Es ist mein persönlicher Weg. Meine neue Grundlage für eine Beziehung zu meiner Mutter. Selbstverständlich distanziere ich mich von ihren Überzeugungen und halte sie auf politischer und gesellschaftlicher Ebene für sehr gefährlich.

An den meisten Tagen gelingt es mir gut, „Heile Welt“ zu spielen, an anderen fällt es mir schwer, meine Wut zu unterdrücken. Doch dann nehme ich einfach ein wenig Abstand. Wir haben in unserer Familie eine stille Übereinkunft, dass wir nicht über „diese Themen“ reden, wenn meine Mutter anwesend ist. Das führt nur zu Missstimmungen und zu Streit. Nicht immer leicht in Zeiten von Corona, doch meistens schaffen wir es ganz gut. Und wenn sie doch wieder Merkwürdiges erzählt, sagen wir „Nein!“ und gehen notfalls einfach aus dem Zimmer.

Im ersten Jahr haben mein Vater, meine Schwester und ich uns regelmäßig ausgetauscht und über Verschwörungsideologien gesprochen. Heute möchten wir diesen bewusst nicht mehr viel Raum in unseren Leben geben und reden seltener darüber. Mein Bruder hat sich nach kurzer Zeit von diesen Gesprächen generell distanziert. Unser Vater geht damit übrigens recht gelassen um. Meine Eltern sind seit fast 45 Jahren verheiratet und führen eine Ehe auf Augenhöhe miteinander. In den letzten Jahren kann ich meinen Vater wie so oft schon um sein ausgeglichenes Gemüt nur beneiden. Trotz missbilligendem Gesicht meiner Mutter liest er jeden Morgen in aller Ruhe sein Hamburger Abendblatt. Und wenn ihm ihre Anschauungen doch mal zu viel werden, verweist er deutlich auf seine Grenzen. Das ist doch eine gute Lösung, wenn man bedenkt, dass die beiden unter einem Dach wohnen und mein Vater sich nicht so einfach räumlich distanzieren kann.

Ich habe durch Gespräche mit anderen Angehörigen einige familiäre Schicksale mitbekommen. Es kann viele gute Lösungen geben. Dies ist unsere persönliche Lösung, damit umzugehen, und sie funktioniert nur, weil wir uns alle an unsere „stillen Regeln“ halten. Es muss am Ende nicht immer gut ausgehen, doch in unserem persönlichen Fall tat es das. Wenn Grenzen nicht respektiert werden, ist ein Kontaktabbruch vielleicht manchmal nicht zu vermeiden. Zumindest für eine gewisse Zeit. Und auch in unserem Fall war unser Weg kein Sprint, sondern ist eher ein Marathon, den wir immer noch bestreiten.

Autorinneninformation
Die Autorin schreibt aus der Perspektive des jüngsten von drei Kindern und suchte mit ihrer älteren Schwester das Gespräch bei der Mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus. Hier fand sie professionelle Hilfe. Sie nahm regelmäßig an einer Online-Selbsthilfegruppe teil.

Bei Interesse an der Selbsthilfegruppe können sich interessierte Personen an KISS Hamburg – Die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen oder die Mobile Beratung wenden. Das MBT Hamburg bietet für Zu- und Angehörige von verschwörungsgläubigen Menschen halbjährlich einen Online-Austauschraum an.

Hier klicken, um den Inhalt von Twitter anzuzeigen.
Erfahre mehr in der Datenschutzerklärung von Twitter.