“Jeder Mensch hat ein Recht auf einen diskriminierungsfreien Arbeitsplatz”

Interview mit Nursemin Sönmez zu diskriminierungskritischer Organisationsentwicklung in Unternehmen

MBT: Sie bieten Unternehmen diversitätsorientierte Organisationsberatung und Prozessbegleitung an. Diversität als Begriff und Konzept erfährt zunehmende Beliebtheit. Wie definieren Sie den Begriff für sich?

Nursemin Sönmez: Mein Diversity-Verständnis steht für die Anerkennung und gezielte Förderung von Diversity in allen Gesellschaftssystemen. Die Bedingung für die Gestaltung von Diversity ist vor allem das Recht aller Menschen auf Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, welches eine Diskriminierung ausschließt. Hier lohnt sich der Blick auf die Menschenrechte, das Grundgesetz (Artikel 1 und 3 GG) und EU-Richtlinien, die das Recht auf Teilhabe unabhängig von (zugeschriebener) sozialer, ethnischer Herkunft, Gender, sexuellen Orientierung, Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung, Alter oder physischen oder psychischen Fähigkeiten aufstellen. Eine rechtliche Legitimation bietet zusätzlich das AGG und in Berlin LADG. Dies legt für mich den Grundstein dafür, dass Diversität nur mit einem Anti-Diskriminierungsansatz möglich ist.

MBT: Was bedeutet es sich als Unternehmen nachhaltig diversitätssensibel aufzustellen?

Nursemin Sönmez: Ein Unternehmen, dass sich nachhaltig diversitysensibel entwickeln möchte befindet sich in einem besonderen Organisationsentwicklungsprozess. Die diversityorientierte und diskriminierungskritische Organisationsentwicklung ist ein (selbst-)reflexiver Lern-und Veränderungsprozess auf mehreren System- und Handlungsebenen. Grundsätzlich bedeutet es sich mit der aktuellen Lage des Unternehmens zu beschäftigen und daraus Ziele und Visionen für eine Veränderung zu treffen. Mögliche Analysefragen (Bestandanalyse) die einen Einblick geben sind Folgende:

  • Worin sehen die Unternehmen ihre Stärke und Erfolge im Hinblick auf Diversity ?
  • Welche Diversity-Kompetenzen, Wissen,Kultur/Haltung und Strukturen sind bereits im Unternehmen vorhanden? Mögliche Handlungsfelder sind Personal (Personalbestand, Rekrutierung- und Förderungslinien), Kommunikation, Programm (Produkte, Zielgruppenarbeit), Führungskultur und Leitbilder.
  • Wo bieten sich  Anschlussmöglichkeiten in der Unternehmensgeschichte, Leitbilder, Kultur und Werte um Diversity im Unternehmen zu etablieren?
  • Welche Erfahrung & Wissen hat das Unternehmen mit Diskriminierungsformen?
  • Welche Erfahrung & Wissen hat das Unternehmen mit Veränderungsprozessen im Allgemeinen?

Neben der Bestandsanalyse bedeutet es für ein Unternehmen an einem Ziel & eine Vision für die Veränderung zu arbeiten. Zudem die Ressourcen hierfür bereit zu stellen und den Willen für eine Veränderung. Nicht selten ist die Organisation, die sich auf diesen Weg begibt mit internen Widerständen konfrontiert. Widerstand gegen die Veränderung, Angst der Mitarbeiter*innen um Verlust von Privilegien & Machtpositionen, Frustration der Mitarbeiter*innen über häufige Change-Prozesse, etc. Um den Widerstand gegen Veränderung in Organisationen zu mildern, können verschiedene Wege hilfreich sein wie zum Beispiel die Veränderung prozesshaft in kleineren Schritten zu planen, inhaltliche oder personelle Anschlüsse im Unternehmen zu finden, Teilhabe aller Mitarbeiter*innen von Anfang an zu ermöglichen, die gesamte Leitungsebene einzubeziehen oder mit kleineren Pilotprojekten  zu starten.

MBT: Mitarbeiter_innen für Rassismus zu sensibilisieren ist ein wichtiges Element ihrer Arbeit. Oft sind Organisationskulturen weiß dominiert, welche strukturellen Maßnahmen braucht es, um diese herauszufordern? Anders gefragt: Wie zeigt sich im Arbeitsalltag, dass Bedürfnisse von Menschen, die rassistische oder antisemitische Diskriminierung erleben, mit gedacht werden?

Nursemin Sönmez: Organisationen sind überwiegend weiß dominiert. Das bedeutet dass wir Menschen mit Rassismuserfahrungen, Menschen die sich als BIPOC positionieren, Menschen die selber oder ihre Eltern nach Deutschland eingewandert sind, Romnja und Sintezza nicht oder nur sehr selten in Organisationen vertreten sind. Zudem fehlen häufig auch Mitarbeiter*innen die eine körperliche Behinderung haben oder trans -Menschen in Organisationen. Zum Verständnis der Gruppenkategorien ist zu erwähnen, dass es sich um Selbstzuschreibung und Fremdzuschreibungen handelt. Wenn diese Gruppen fehlen hat es zur Folge das möglicherweise Kompetenzen, Erfahrungen und vor allem das Wissen dieser Gruppen in der Organisationsstruktur fehlen. Und die Repräsentation im Hinblick auf die demographische Verteilung von diversen Gruppen in Deutschland nicht in der Organisation gegeben ist. Und wenn doch Mitarbeiter*innen dieser Kategorien im Unternehmen arbeiten, sind sie häufig als Projektmitarbeiter*in oder studentische Teilzeitkraft angestellt, aber fehlen fast immer in der Leitungsebene.

Das Wissen zu Rassismus fehlt in den Organisationen. Möglicherweise gab es interkulturelle Trainings in den 90er Jahren oder Diversity-Trainings ohne eine Anti-Diskriminierungskomponente. Das hat zur Folge dass wir diese Organisation mit Anti-Rassismus konfrontieren müssen. Dies kann auf unterschiedlichen Wegen stattfinden und vor allem indem wir nach Anschlussmöglichkeiten in der Organisation suchen. Dies kann die Gender-Arbeit oder andere Ebenen wo Diskriminierung ein Thema ist, sein. Auch sind das AGG, Beschwerdestelle im Falle von Diskriminierung eine Möglichkeit hierfür. Oder im Fall von Hochschulen auch die Kritik und Widerstand von Studierenden of color oder Nachwuchswissenschaftler*innen of color.

MBT: In unserer Beratungsarbeit machen wir die Erfahrung, dass das Thema Diversitätsorientierung zwar angegangen wird, allerdings werden teilweise Mitarbeiter_innen mit der Aufgabe betraut, die wenig Einfluss darauf haben, wie Unternehmensentscheidungen ausfallen. Ist Diversitätsorientierung Leitungssache?

Nursemin Sönmez: Diversityaufgaben sind leider häufig nicht in Stabstellen oder Leitungsebenen angesiedelt. Zudem sind die Ressourcen häufig zu knapp. Das bedeutet die zuständige Mitarbeiter*in hat kaum Gestaltungsmacht und vor allem keine Macht um Strukturen zu verändern. Zudem werden Diversityaufgaben häufig in befristeten Stellen verortet oder in Genderinstitutionen der Organisationen (Beispiel Hochschulen) verortet. Hier haben Diskriminierungsdimensionen wie Rassismus und Intersektionalität selten Raum. Das ist sehr frustrierend für die Mitarbeiter*in und ich habe dies leider häufig erlebt. Ja, Diversity und diversityorientierte Change-Prozesse sind Leitungsaufgaben. Es findet ein Organisationsentwicklungsprozess statt und wie jeder Veränderungsprozess in einer Organisation ist dies eine Leitungsaufgabe.

MBT: Oft trauen sich von antisemitischer oder rassistischer Diskriminierung Betroffene gar nicht erst Vorfälle zu melden. Aus Angst nicht ernst genommen zu werden, selbst Schwierigkeiten zu kriegen oder, weil sie keine Chancen auf Verbesserung sehen, halten sie Situationen aus oder wechseln den  Job. Wie können Betriebe eine Atmosphäre schaffen, in der Mitarbeiter_innen sich trauen, sich beispielsweise über rassistische Witze von Kolleg_innen zu beschweren?

Nursemin Sönmez: Auch weisse Frau*/transFrau* oder weiße Menschen mit anderen Diskriminierungsrisiken (körperliche Behinderung, transPersonen, queere Personen etc.) kennen diese Situationen am Arbeitsplatz. Beiläufig in der Runde oder ganz bewusst an Sie werden menschenverachtende Witze gerichtet oder diskriminierende Begriffe verwendet. Ob die Diskriminierung beabsichtigt ist oder nicht spielt, keine Rolle. Wichtig ist an der Stelle welche Wirkung es bei den Betroffenen verursacht. Und wichtig ist auch, dass es selten das erste Mal ist, dass der Mensch diese Diskriminierungserfahrung macht. Wie können wir die Menschen ermutigen diese Fälle zu melden und öffentlich zu machen und die Kolleg*in, die diskriminiert hat zu Rechenschaft zu ziehen? Indem wir Sie ganz klar unterstützen, Sie schützen vor weiteren Diskriminierungen und Sie nicht alleine diesen Weg gehen müssen. Eine Auswahl an Maßnahmen sind:

  • Geschäftsführung, Leitungsebenen, Betriebsrat und andere Vertretungsgremien positionieren sich klar und sichtbar/hörbar gegen Rassismus, Anti-Muslimischen Rassismus und Antisemitismus.
  • Beschwerdestellen und -prozesse im Fall von Diskriminierung werden eingerichtet oder Verweisstrukturen/Kooperationen mit regionalen Anti-Diskriminierungsbüros aufgebaut.
  • Diskriminierung, Rassismus von Kolleg*innen haben rechtliche Konsequenzen (Abmahnung, Kündigung)
  • Leitbilder, Führungskultur sind diversitysensibel, diskriminierungskritisch und rassismuskritisch
  • Personalförderungsmittel beinhalten regelmäßige Trainings für alle Mitarbeiter*innen zu Diversity, Anti-Diskriminierung, Anti-Rassismus, etc.
  • Betriebsrat und Gleichstellungsstellen werden geschult im Hinblick auf Diversity und Anti-Diskriminierung
  • Personaleinstellung von mehr BIPOC (30%-Quote) und insbesondere auf den Leitungsebenen
  • Qualitätsstandards beinhalten Diversity und Anti-Diskriminierungskriterien (Checklisten, Ziele etc.)

MBT: Die Auseinandersetzung mit struktureller Diskriminierung ist ein langer und oft auch anstrengender Prozess, gleichzeitig ist sie nötig, um Mitarbeiter_innen ein menschenrechtsorientieres Arbeitsumfeld zu garantieren. Welche Vorteile haben Unternehmen, die sich hier gut positionieren?

Nursemin Sönmez: Der Ansatz Diversity als Ressource und die Förderung von Diversity als positives Potential zu betrachten ist eine Möglichkeit. Hier stehen die ökonomische Logik, der Markt und Gewinn im Vordergrund. Natürlich sind die Zielgruppen, Publikumsarbeit, Programmangebote die diskriminierungssensibel sind von Vorteil für die Organisation weil sie ein neues Publikum und neue Kooperationen erreichen können. Zudem können Sie bestimmte Fördergelder leichter erhalten, wenn Sie diese neuen Organisationsbilder verwenden. Wir sehen dies teilweise in der Kulturbranche oder rudimentär an Hochschulen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben. Jedoch ist nach meiner Felderfahrung und Ansicht für eine nachhaltige Etablierung von Diversity (siehe oben) Anti-Diskriminierungsaspekte notwendig ansonsten kann es in eine kostenintensive symbolische Show münden.

Einen weiteres Argument für ein diversitysgerechtes Unternehmen spricht die Frage: An welche Kriterien würden sie sich als Mensch der von Rassismus betroffen ist bei ihrer Arbeitsplatzsuche orientieren? Für mich persönlich sind es folgende Aspekte/Bereiche die ich prüfe bei meiner Bewerbung: Wer ist das Personal und die Leitungsebene? Wie divers sind diese? Welche Personalkultur und  Kultur des Miteinanders wird gelebt? Gibt es ein Hauch von Diversity-Antidiskriminierungselemente im Leitbild, webpage, etc.? Sie steigern als Unternehmen ihre Attraktivität als Arbeitgeber und als Kooperationspartner. Und ich möchte zum Abschluss nochmal betonen, jeder Mensch hat ein Recht auf einen diskriminierungsfreien Arbeitsplatz und die Unternehmen sollten dafür Sorge tragen.


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